Im Kanton Zürich leben 180 000 Personen mit einer Behinderung – einer psychischen, kognitiven oder körperlichen Einschränkung. Damit ihre Stimme in der Politik gehört wird, gibt es seit rund einem Jahr das Mitwirkungsmodell «Partizipation Kanton Zürich». In sieben Arbeitsgruppen haben Betroffene erarbeitet, was für sie wichtig ist.
Marianne Rybi-Berweger ist Geschäftsleiterin der Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ), die das Modell mit aufgebaut hat. TIXI Zürich hat mit ihr gesprochen.
TIXI: In welchen Bereichen erleben alle Betroffene grosse Hindernisse?
Marianne Rybi-Berweger: Viele Betroffene erleben im Bereich Wohnen Hindernisse. Eine passende, bezahlbare Wohnung zu finden, welche auch die behinderungsbedingten Bedürfnisse abdeckt, ist oft eine grosse Herausforderung. Der Spiessrutenlauf beginnt schon vor der Wohnungsbesichtigung: Gehörlose Menschen können sich telefonisch nicht selbst erkundigen. Rollstuhlfahrende müssen schon vor der Besichtigung abklären, ob die Wohnung überhaupt zugänglich ist. Menschen mit Sehbehinderung sind auf ein barrierefreies Wohnungsinserat angewiesen, um an die nötigen Informationen zu kommen. Informationen zur Hindernisfreiheit sind häufig zu unspezifisch oder fehlen gänzlich. Vermieter:innen sind oft verunsichert im Umgang mit Personen mit Behinderung. Aber auch Personen mit psychischer oder kognitiver Behinderung werden aufgrund ihrer Behinderung und den damit verbundenen Vorurteilen bei Wohnungsvermietungen benachteiligt. Personen, die behinderungsbedingt von den Leistungen der Sozialversicherungen leben, haben zudem ein sehr knappes Wohnungsbudget. Die Auswahl im kostengünstigen Wohnungssegment ist klein. Dort eine behindertengerechte Wohnung zu finden, ist äusserst selten.
Die Schweiz hat die Behindertenrechtskonvention der UNO unterschrieben. Sie verlangt, dass Menschen mit Behinderung bei der Umsetzung eng miteinbezogen werden. Sie haben darum «Partizipation Kanton Zürich» entwickelt. Wie funktioniert das genau?
Um den Anforderungen gerecht zu werden, arbeiten das Kantonale Sozialamt und die BKZ eng zusammen. Die BKZ hat sich im Dezember 2019 verpflichtet, das Mitwirkungsmodell «Partizipation Kanton Zürich» aufzubauen. Damit wird sichergestellt, dass alle Gruppen von Menschen mit Behinderung bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention mitwirken.
«Partizipation Kanton Zürich» besteht aus rund 60 Fachpersonen, die mehrheitlich von Behinderung betroffen sind. Diese stellen Wissen und Zeit zur Verfügung, um den Kanton bei der Umsetzung zu unterstützen. Je nach Behinderungsart stehen andere Massnahmen im Zentrum. Darum haben wir sieben Arbeitsgruppen gebildet, welche die wichtigsten Hindernisse aus der jeweiligen Perspektive erarbeitet haben. Diese Massnahmen sind dringend notwendig, damit alle Menschen die gleichen Rechte geniessen können. Die wichtigsten haben wir im Dokument «TOP-PRIORITÄTEN» zusammengefasst.
Für uns ist speziell auch der Bereich persönliche Mobilität interessant. Welche Erkenntnisse und Forderungen gibt es in diesem Bereich?
Für Personen mit Mobilitätsbehinderung sind manchmal schon kurze Wege zum Arzt, zum Lebensmittelladen oder zu Freunden aufgrund der körperlichen Voraussetzung sehr anstrengend. Im Individualverkehr braucht es genügend Rollstuhlparkplätze. Diese müssen nahe bei den Eingängen der Zielorte sein. Damit Personen mit Behinderung den öffentlichen Verkehr nutzen können, müssen alle Haltestellen hindernisfrei angepasst werden. Weiter braucht es verlässliche Informationen zur Hindernisfreiheit in Echtzeit, d.h. (Online-)Fahrpläne zeigen an, ob ein Tram rollstuhlgängig ist. Fahrdienste wie TIXI sichern die Mobilitätsbedürfnisse derjenigen, die weder das Auto noch den ÖV nutzen können. Dieses Angebot ist äusserst wichtig. Gleichstellung in diesem Bereich heisst, dass eine Fahrt mit einem Fahrdienst nicht teurer sein soll als ein ÖV -Ticket.
Wieso ist Mobilität so wichtig?
Mobilität ist im Leben zentral für das Pflegen von Beziehungen, die Gesundheit, den Alltag. Dies ist auch der Grund, warum man im Bereich Mobilität bereits seit Jahren aktiv die Behindertengleichstellungsrechte umsetzt. Da hat sich schon einiges getan und vieles ist in Planung.
Wie ergänzen die Fahrdienste die öffentlichen Verkehrsmittel?
Die Fahrdienste sind und bleiben ein zentrales Standbein für die persönliche Mobilität von Betroffenen. Auch wenn der ÖV vollständig ausgebaut ist, werden Personen aus behinderungsbedingten Gründen und auch aufgrund des Alters auf diese wertvolle Dienstleistung angewiesen sein. Aufgrund der demografischen Entwicklung nehmen die Fahrten wahrscheinlich in Zukunft eher zu. Fahrdienste und Behindertenorganisationen sollen sich weiterhin dafür einsetzen, dass Fahrten weder mengenmässig beschränkt, noch teurer als der ÖV sind. Erst dann sind Personen mit Behinderung im Bereich Mobilität nicht mehr benachteiligt.
Der Lebensbereich Wohnen bleibt ebenfalls ein zentrales Thema. Der Regierungsrat hat im Frühling das Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt, das im Kanton Zürich einen Paradigmenwechsel bringen soll. Bisher wurden Institutionen finanziert. Das neue Gesetz sieht jetzt vor, die Betroffenen direkt zu unterstützen. Was heisst das konkret?
Bis jetzt hat der Kanton Institutionen im Bereich Wohnen und Arbeiten finanziert. Das Geld floss direkt vom Kanton an die Dienstleistungsanbieter und die Betroffenen haben nur dann davon profitiert, wenn sie in einer Institution lebten. Das Wohnen ausserhalb einer Institution wurde vom Kanton nicht finanziert. Neu wird der Unterstützungsbedarf einer Person mit Behinderung für den Bereich Wohnen erhoben. Zusammen mit der Person wird festgehalten, ob sie Hilfe beim Essen, Ankleiden, Einkaufen, Kochen, Haushalten etc. braucht und wie viel. Daraus wird der Unterstützungsbeitrag berechnet und die Person kann selbst entscheiden, ob sie die nötigen Leistungen in einer Institution oder bei ambulanten Dienstleistern einkauft. Es gibt bereits einige ambulante Angebote wie den Mahlzeitendienst, verschiedene Spitexdienste oder Nachbarschaftshilfen. Weitere Dienstleistungsangebote müssen im Kanton Zürich noch aufgebaut werden.
Inwiefern nimmt der Kanton Zürich mit dem neuen Gesetzesentwurf eine Pionierrolle ein, wenn es um die Rechte von Menschen mit Behinderung geht?
Pionierhaft war der Einbezug von Betroffenen bei der Erarbeitung von Grundlagen für das Gesetz. Das ist richtig und wichtig und doch noch nicht selbstverständlich.
Wie wird sichergestellt, dass Betroffene über diese Neuerungen ausreichend informiert sind und Unterstützung erhalten?
Sie sprechen eine Knacknuss an: Das Gesetz sieht eine kostenlose Beratungsstelle für Betroffene vor. Sie muss breit angelegt werden und für alle zugänglich sein. Das beinhaltet Informationen in leichter Sprache, Gebärdensprache, barrierefreie Digitallösungen sowie viele proaktive Veranstaltungen und Gespräche. Inwiefern der Informationsbedarf so sichergestellt werden kann, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen.
Das Selbstbestimmungsgesetz muss vom Kantonsrat noch angenommen werden. Wie gut stehen die Chancen?
Sofort durchgewunken wird das Gesetz wahrscheinlich nicht. Das wollen wir auch nicht, denn aus Sicht der BKZ hat das Gesetz noch Verbesserungspotenzial. Für uns ist es wichtig, dass auch Privatpersonen Dienstleistungen für Betroffene anbieten können. Weitere inhaltliche Details durfte die BKZ an einer Anhörung in der kantonsrätlichen Kommission präsentieren.
Der Zeithorizont für die Umsetzung des Gesetzes beträgt 5 Jahre. Dauert das nicht viel zu lange?
Mit der Umsetzung der Vorlage würde der Kanton Zürich Neuland betreten. Das braucht Zeit und man muss aus den ersten Erfahrungen lernen sowie allenfalls Anpassungen vornehmen. Trotzdem: Die BKZ wird sich dafür einsetzen, dass das Tempo nicht unnötig verlangsamt wird und Betroffene möglichst schnell von den neuen Regelungen profitieren können.
Der Kanton gibt über 300 Millionen Franken für das neue Zürcher Modell aus. Wie werden diese Mehrkosten gerechtfertigt?
Das neue Modell kostet nur 10 Prozent mehr als das alte Modell. An der Pressekonferenz vom 8. April 2021 erklärte Regierungsrat Mario Fehr, dass mit ähnlichen Mehrkosten zu rechnen ist, wenn wir das alte System beibehalten. Die aktuellen Einsparungen werden alle auf Kosten der Betroffenen und ihrer Angehörigen gemacht. Das ist beschämend und kein Zustand für die Zukunft. Allenfalls hat das neue Modell auch positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Behinderung und es können dadurch Kosten eingespart werden. Denn Selbstbestimmung ist ein wichtiger Faktor dafür.